Parabel
Herr Lehmann wollt sich malen lan,
Hub drum zu Lenbach z'reden an:
»Herr Meister, Ihr sollt mich konterfein!
Doch solls ein feines Bildnus sein:
Ein Bild voll Schönheit, Geist und Kraft,
Ein Ehrenmal der Lehmannschaft.
Mein treues Auge, deutsch und blau,
Daß es recht gottesfürchtig schau!
Meiner Lippen roter Bogenschwung
Verrate heilge Begeisterung
Für alles, was da groß und wahr:
Baut meine Stirne hoch und klar,
Und laßt die Locken golden wallen!
Meine Nase soll meiner Frau gefallen
(Sie liebt die langen, graden, schmalen):
Was Ihr verlangt, ich wills bezahlen.«
Der Meister durch das Brillenrund
Schaut nieder auf Herrn Lehmann und
Er spricht:
»Herr Lehmann, Euer wohledel Gesicht
Eignet sich zu einem Adonis nicht!
Ihr seid ein guter Lehmann zwar,
Doch ein Apoll nicht eben gar.
Euer Auge blickt ein wenig schiel,
Eure Nase staunt zum Himmel zu viel,
Eurer Locken blonden Scheitelkranz,
Die Zeit hat ihn gelichtet ganz.
Ihr seid ein Bürger unzweifelhaft bieder,
Doch Eure Stirn ist gedrückt und nieder,
Auch geht Eurer Lippen Schwung die Quere –
Herr Lehmann, ich bedaure sehre.«
Groß sah den Meister Herr Lehmann an,
Dacht bei sich: Das ist ein grober Mann!
Ist auch von den Realisten verdorben;
Der Idealismus ist ausgestorben.
Oh, diese Zeiten, diese krassen!!
Kein Biedermann kann sich mehr malen lassen.
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